Tschad

Zwischen wünschbar und machbar

12.1.2024
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10
Min.
Fünf Stierende kauern hinter einem mit Kärtchen dargestellten Zahlenfeld bis 100

Wir leben nun seit zwei Jahren im Tschad. Das erste Halbjahr 2022 war geprägt von Unruhen, Unsicherheiten sowie vielen Toten und Verschwundenen im Land. Wir befanden uns als weisse Neulinge mittendrin, in unserem neuen Zuhause, am Rande der Hauptstadt.
Die Franzosen waren und sind unbeliebt und wir hörten oft: «Fransa barra», also Franzosen raus. Darum war nebst der Begrüssung auf Tschadarabisch unser erster Satz in Arabisch: «Aniina min Swisra», wir kommen aus der Schweiz…

Unsere regelmässigen Gebetsspaziergänge und daraus folgend der Aufbau einer kleinen Physiotherapie auf der Station öffneten uns den Zugang zu vielen Menschen im arabischen Dorf, zu dem wir gehören. So fühlen wir uns nun wohl und angekommen. Ja, die Beziehungen mit den Dorfbewohnern sind wohl etwas vom Schönsten, das wir erleben.

Muhammed lernt laufen (Physiotherapie)


Im zweiten Halbjahr 2022 startete unsere Lehrtätigkeit am CEFE (Centre Evangélique de Formation des Enseignants). Auch dieses zweite Standbein ist eine bereichernde Erfahrung, obwohl wir immer wieder mit vielen organisatorischen Begrenzungen, plötzlichen Stundenausfällen, dauernden Stromausfällen und anderen Unzulänglichkeiten zu kämpfen haben. Was ist möglich, was macht Sinn? Die Arbeit mit den Studierenden ist interessant und erfüllend. Allerdings herrscht bei der Planung und Gestaltung der Lehrinhalte ein ständiges Abwägen zwischen dem, was wünschbar ist und dem, was möglich ist. Gerne würden wir den Studierenden beibringen, wie man einen motivierenden und lehrreichen Unterricht gestaltet, so wie wir es aus der eigenen Lehrtätigkeit in der Schweiz kennen. Die Kinder sollen verstehen, was gelehrt wird, am Unterricht Spass haben und ihr Potenzial sollte ausgeschöpft werden. Dazu braucht es aber einen passenden Rahmen, das heisst ausreichend Platz, angemessene Lernmaterialien und die richtigen Methoden. Die afrikanische Realität schränkt hier die Möglichkeiten brutal ein. Der am stärksten limitierende Faktor sind sicher die fehlenden Finanzen. Es gibt kein Geld für anständige Räumlichkeiten und Möbel, genügend Schulmaterial, gute Lehrbücher, didaktische Mittel oder die nötige Unterstützung durch technische Geräte (Kopierer, Computer, etc.). Auch die Lehrerlöhne sind sehr tief. In den Ferien gibt es für manche Lehrkräfte keinen Lohn, viele gehen darum noch einer anderen Tätigkeit nach.

Bildliche Darstellung der Zahlen bis 100


Schule bedeutet hier fast ausschliesslich Frontalunterricht und Auswendiglernen. Man bleibt weitgehend in einer abstrakten Sphäre, muss den Lernstoff auswendig wissen, aber nicht verstehen. Lernhilfen und didaktische Materialien, die für das Verständnis hilfreich wären, sind praktisch unbekannt. Ausser beim Abschreiben von der Wandtafel werden die Schülerinnen und Schüler kaum aktiv. Wer nicht lernt oder sonst nicht spurt, bekommt den Stecken zu spüren.
Auch unsere Studierenden am CEFE haben dieses Bild von einer Schule. Etwas anderes können sie sich kaum vorstellen. Viele beherrschen zudem grundlegende Kompetenzen in Mathematik und Lesen selbst kaum. Das schränkt den Unterricht am Seminar enorm ein. Vieles, was wir in Europa als selbstverständlich erachten, ja von einer guten Lehrerausbildung erwarten, ist hier weder sinnvoll noch umsetzbar. Den Unterrichtsstil so zu übernehmen, wie wir ihn aus Europa kennen, ist nicht möglich. Also versuchen wir, Ideen, Methoden und Unterrichtsverfahren den Möglichkeiten hier anzupassen und zu vermitteln. Wir hoffen, dass das eine oder andere hängenbleibt und einmal einen Unterschied machen wird in der zukünftigen Berufspraxis der Studierenden.
Unser Fächerkanon, den wir unterrichten, eignet sich dazu sehr gut. In Mathematik versuchen wir die Studierenden in Grundfertigkeiten weiterzubilden, die sie selbst einmal unterrichten müssen. Im Fach Pädagogik erklären wir, wie Kinder lernen und welche Aspekte für einen adäquaten Unterricht wichtig sind. In der Mathe-Didaktik kombinieren wir das mit konkreten Unterrichtsbeispielen und zeigen, wie man selbst gemachte, einfache Anschauungsmittel einsetzen und die Kinder selbst aktiv werden lassen kann. Vor allem drei Punkte sind uns ein Anliegen: die Zielorientierung aller Unterrichtsteile, die Veranschaulichung des Lernstoffs, damit abstrakte Inhalte besser verstanden werden und die Eigenaktivitäten der Schülerinnen und Schüler. Für die Studierenden sind diese Aspekte oft neu und schwierig zu verstehen und umzusetzen.

Einführung des Zahlenraums bis 1'000

Am 2. Oktober 2023 startete das Studienjahr 23/24 mit neu zwei Jahrgängen. Der Ausbildungskurs am CEFE wird von der Regierung anerkannt und die Studierenden erhalten nach bestandener Prüfung ein Diplom. Wenn Stunden eines anderen Lehrers ausfallen, versuchen wir Informatikunterricht einzuschieben, denn dieser hatte im Stundenplan keinen Platz mehr. Die Regierung hat das Schuljahr auf die Dauer von Ende Oktober bis Ende Mai festgelegt. Darin enthalten sind 2 x 10 Tage Weihnachts- und Osterferien, 3 x 10 Tage Prüfungen und 2 - 4 Wochen Praktikum. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für den ordentlichen Unterricht.
Seit diesem Studienjahr ist Silvia offiziell die Sekretärin des Schuldirektors. Mit mehr oder weniger Erfolg versucht sie etwas Struktur in den Studienalltag zu bringen, den Studierenden nachzugehen, Studiengelder einzuziehen und Stundenpläne zu füllen. Ein erster Erfolg ihrer Bemühungen war, dass wir jetzt abends bis 18.15 Uhr Strom haben, da durch ihre Intervention der grosse Generator des Collèges läuft. Ab 17.15 Uhr ist es drinnen so dunkel, dass kein Unterricht mehr möglich war und die meisten Lehrpersonen vorzeitig aufhörten.
Hansueli und Silvia F.

SCHULBILDUNG UND CHARAKTERBILDUNG

Im Blick auf die Stärkung der christlichen Schulen in Afrika organisierte die ACSI (Association Internationale des Ecoles Chrétiennes) vom 21. bis 25. August 2023 zum vierten Mal einen Runden Tisch, der in Kigali, Ruanda, stattfand.

Vierter Runder Tisch zum Thema ganzheitliche Bildung


Diese Konferenz war sehr wertvoll und von vielen Neuerungen geprägt. Die 236 Teilnehmenden aus 30 afrikanischen Ländern und sieben weiteren Nationen wurden herausgefordert, sich für eine christliche Bildung stark zu machen, besonders im Umfeld, das von entgegengesetzten Philosophien und Ideologien wie Islamisierung, Kommunismus, Heidentum, liberale Theologien, Homosexualität und Transgender-Kulturen durchdrungen ist.
Afrika ist ein riesiger Kontinent mit einer hohen Bevölkerungszahl. Bis 2050 wird die afrikanische Bevölkerung im Alter von 0 bis 20 Jahren 945 Millionen betragen, was 51% der Gesamtbevölkerung Afrikas entspricht. Laut einem der Redner an der Konferenz, Rev. Idore Nuamuke aus dem Kongo, wird Subsahara-Afrika bis ins Jahr 2050 die Region mit der höchsten Anzahl an Kindern unter 18 Jahren sein. Die junge Bevölkerung in Afrika wird der Motor für den wirtschaftlichen, sozialen und geistlichen Wohlstand der kommenden Jahre sein, wenn wir über die notwendigen Programme verfügen, um die Jugendlichen auf die Herausforderungen vorzubereiten und sie zu ermutigen, ihr Leben nach den guten Werten der Bibel auszurichten. Dann kann das Wachstum der jungen Bevölkerung in Afrika eine Chance sein.
Drei renommierte Redner haben die gängigen Praktiken im Bildungsbereich in unseren Ländern in Frage gestellt. Auf die Vorträge folgten Fragerunden und Workshops. Die gemeinsam definierte Erklärung fordert, dass sich Kirchen, Bildungsinstitutionen und die Familien gemeinsam für eine christuszentrierte, qualitativ hochwertige Bildung einsetzen sollen. Zudem gelte es, Leitungspersonen in Kirchen und Schulen besonders zu fördern, zu schulen und zu ermutigen.

Die Delegation aus dem Tschad

Der Tschad war mit neun Delegierten vertreten, im Gegensatz zu früheren Veranstaltungen, bei denen es nur zwei Personen waren. Die Delegation bestand aus Pastoren der grossen Denominationen, die Schulen gegründet haben, aus Leitenden der nationalen Verbände der christlichen Schulen und ausgewählten Führungskräften, die im Bildungsbereich tätig sind. Von der Wichtigkeit des Themas überzeugt, haben sie beschlossen, noch im Dezember 23 eine gross angelegte Veranstaltung zu organisieren, an der auch Pastoren, Schulleitende und Verantwortliche für Bildungsprojekte teilnahmen. Wir freuen uns, dass viele Akteure sich gemeinsam für den Paradigmenwechsel in der Bildung in Afrika engagieren.
Florent N.T.

AUF AUGENHÖHE

Im Jahr 2012 hat SAM global die Arbeit im Tschad von der VIA übernommen. Dabei wurde AMI-p (französische Partnerorganisation) die Projektverantwortung für das Waisenhaus Bakan Assalam in Abéché zugeteilt, währenddessen SAM global die Arbeit und das Team in Am Senena übernommen hat. Von da an lief die Bildungsarbeit, die Kontakt- und Gemeindearbeit sowie der Gesundheitsposten unter dem Namen ProRADJA’.
Leider gelang es uns nicht, alle rückkehrenden Einsatzleistenden zu «ersetzen». So begannen wir, vermehrt auf die lokalen Mitarbeitenden und deren Organisationen zu setzen. Die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Organisationen ist mittlerweile ein zentrales Ziel unserer Arbeit. So arbeiten wir beispielsweise seit einigen Jahren direkt mit dem Netzwerk Christlicher Schulen (CNEET) in der Lehrerweiterbildung zusammen. Oder wir unterstützen seit 2019 die Ausbildung am Evangelischen Lehrerseminar mit Finanzen und Personaleinsätzen.

Verantwortliche aller fünf Partnerorganisationen


Sämtliche Arbeiten wurden über die zentrale Verwaltung von ProRADJA’ abgewickelt. Da diese als Vertretung von SAM global angesehen wurde, mussten wir jeden Franken, der im Tschad investiert wurde, in der Buchhaltung der Homebase abbilden. Dies verlangte eine aufwändige Buchhaltung im Tschad und hohen Betreuungsaufwand von Seiten der Homebase. Auch der Betrieb der Station verursachte hohe Kosten. Die Wohn- und Gästehäuser mussten unterhalten oder gar erneuert werden. Eine Hofmauer wurde gebaut, die Autos müssen verwaltet und repariert werden usw. Seit etwa zwei Jahren zeichnet sich hier eine Veränderung ab. So sollen künftig die Finanzen direkt zu unseren Partnerorganisationen fliessen, mit dem Ziel, die Buchhaltung von ProRADJA’ «überflüssig» zu machen. Mein kürzlicher Aufenthalt im Tschad hat dazu gedient, in einem ersten Schritt die Anstellung von Sérach und N’Djerané direkt bei ihren Organisationen zu klären und einen Zusammenarbeitsvertrag abzuschliessen. Sérachs Jugend- und Entwicklungsorganisation AJDL und die von N’Djerané gegründete Jüngerschaftsbewegung unterbreiten uns jetzt ihre Projekte und wir können sagen, welche Teile davon wir finanzieren oder wo wir sogar Personal entsenden möchten. Neue Zusammenarbeitsverträge machen wir auch mit dem CNEET und dem Bildungsdepartement der EET im Blick auf das Lehrerseminar und die Schule Moustakhbal wa Radja.

Seminar mit Vertretern aller Partnerorganisationen


Vor einigen Monaten haben wir das Komitee der Mennoniten in Frankreich und die Leitung der Kirche im Tschad darüber informiert, dass wir das Gelände in Am Senena ab 2025 nicht mehr verwalten möchten und sie (als Besitzer) doch eine Nachfolgelösung suchen mögen. Dies wird einige Freunde unter uns wehmütig stimmen, sind mit diesem Ort doch viele schöne (oder auch schwere) Erinnerungen verbunden. Auf der anderen Seite spüre ich hier sehr viel Verständnis von den Verantwortlichen unserer zum Teil neuen Partnerorganisationen. Sie sind alle sehr motiviert, wollen selbst mehr Verantwortung übernehmen und richtungsweisende Entscheidungen treffen. Das verstehe ich unter einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe und einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit.
Herzlichen Dank für euer Interesse und eure Unterstützung!
Andreas Zurbrügg, Länderverantwortlicher

SAM global
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